Aufführung von Theater-Schülern der IGS Morbach bewegt die Zuschauer
Montag Abend, Baldenauhalle, Morbach. Ich komme direkt von der Arbeit, bin eigentlich zu müde zum Denken. Ich bekomme eine orange markierte Wäscheklammer am Eingang. Ich verstehe nicht, was ich damit machen soll, muss zweimal nachfragen. Links an der Kleidung befestigen. Aha.
KLAMMER Auf einmal werden wir sortiert. Die mit der grünen Klammer folgen bitte hier nach links, die mit Orange hier nach rechts. Was gibt das? Ich bin doch müde. Ich mag keine Publikumsbeteiligungsspielchen. Aber auf einmal bin ich aussortiert. Getrennt von meinem Mann. Der hat grün. Auf einmal bin ich einer Gruppe mit anderen Orangen, mit denen ich nichts zu tun habe. Soll etwas machen, was ich nicht will. Nach rechts gehen. Leiste Folge obwohl ich nicht will. FÜHLE: So geht: über ein willkürliches Merkmal definiert werden. So geht: zur Gruppe gemacht werden. So geht: getrennt werden. Zwei lächerliche Minuten lang. Keinerlei Gefahr besteht, es ist 2014, nicht 1939. Aber ich hab‘s GEFÜHLT.
KOFFER Da stehen alle auf der Bühne, jeder mit seinem Koffer. Draußen im Foyer waren alte Koffer aufgebaut, mit ein paar alten Sachen drin, Kleider, eine Puppe, eine Kinderzeichnung. Eine persönlich gehaltene Buchvorstellung, ein Brief an die Buchfigur, die jeder spielt. Ich lese die Geschichten, bemerke den Dialog zwischen Spielenden und Figur. Kann ich Du werden? Antwortest Du mir? Kann ich Dich spüren? Wie kann ich Dich wieder abstreifen, wieder Ich werden? Versuche mir die Geschichten zu merken, klappt nicht, ist auch völlig überflüssig. Wie sie da stehen, auf der Bühne, mit ihren Koffern. Mit ihrem Satz. Ich bin….Hana und male gerne…16 Jahre alt ….und spiele Klavier. Wie sie diesen Koffer umklammern. Etwas, das Bedeutung für meine Identität hat. Mich ausmacht. Ich bin… Wie wenig das wird, wenn es in einen Fluchtkoffer passen soll. Wie wichtig das wenige wird, was mich dann noch ausmacht. Was ich festhalte, dem Aussortiertsein, zur Gruppe gemacht werden, der gestreiften Kleidung, der Ent-Individualisierung entgegensetze. Mein rosa Kaninchen. Ich bin….orange.
Das geht so nah. Nichts ist vorgefertigt, also kann ich nichts vorhersehen. Kann mich nicht distanzieren, so… Anne Frank, achja, hab ich auch gelesen, weiß Bescheid. Ich muss mit allen Poren offen bleiben. Ein neues Bild, ein neuer Klang, ein neuer Einfall. Mutter sind Viele. Koffer wird Versteck. Wird Drohkulisse. Alles dringt mir durch die Poren, spinnt sich fort in meinem Inneren. Schnipsel von Geschichten, Schnipsel von Individualität. Ja, wie der kleine Fotoausriss im Eingangsvideo, der da zärtlich ans Herz gepresst wird. Einzigartig, jemandem unendlich kostbar, vergangen.
Und dann, in all dem Schmerz, taucht dieses Lied auf der Bühne auf. Irgendwo, irgendwann, gibt’s ein bisschen Seligkeit… die Sehnsucht, die Hoffnung, der Glaube an Leben, an Zukunft, an die Seligkeit… Das ist herzzerrreißender als alles vorher, herzzerreißender als schreckliche Geschichten, schreckliche Zahlen es sein könnten. Weil man FÜHLEN kann, wie kostbar diese Sehnsucht ist, wie kostbar der Mensch. Jeder Mensch. Der, auch wenn seine Individualität auf einen Koffer reduziert wird, der, auch wenn ihm dieser Koffer genommen wird, hofft, glaubt, singt. Diese Spannung ist kaum zu ertragen, diese Zartheit, Kostbarkeit ZUGLEICH mit dem Entsetzen. Das Wasser schießt mir in die Augen. Ich stelle mir vor, dass Ihr diese Spannung haltet, einfach immer weiter singt, bis wir mitsummen, mitsingen, einfach immer weiter. Noch jetzt kann ich es hören, wie es summt. DANKE!
(Gedanken der Zuschauerin Maria Jekeli-Halstein)