Am Freitag, dem 15. November 2024, hatte die Jahrgangsstufe 13 die besondere Ehre, Henriette Kretz, eine Holocaust-Überlebende, an der IGS Morbach begrüßen zu dürfen. Die 90-jährige Zeitzeugin, die 1934 in Stanisławów (Polen, heute Ukraine) geboren wurde, teilte mit uns ihre eindrucksvolle und bewegende Lebensgeschichte. Mit eindringlichen Worten erinnerte sie an die Schrecken des Holocaust und appellierte an unsere Verantwortung – die der nachfolgenden Generationen.
Henriette Kretz wuchs als einziges Kind in einer liebevollen Familie auf: Ihr Vater war Arzt, ihre Mutter Juristin. Doch ihr Leben wurde durch die Judenverfolgung der Nationalsozialisten jäh zerstört. Nach der deutschen Invasion Polens im September 1939 und dem späteren Überfall auf die Sowjetunion 1941 erlebte Kretz als junges Mädchen die grausame Realität von Flucht, Zwangsghettos und Deportationen. In ihrem Vortrag schilderte sie, wie ihre Familie trotz der Hilfe von „Gerechten unter den Völkern“ und zahlreicher Verstecke sowie durch Bestechung schließlich von der Gestapo entdeckt wurde.
Als die drei abgeführt wurden, stemmte sich ihr Vater verzweifelt gegen die deutschen Soldaten und rief seiner Tochter zu, sie solle weglaufen und sich retten. Während ihrer Flucht hörte sie die tödlichen Schüsse. Sie selbst konnte fliehen und überlebte in einem von Nonnen geführten Waisenhaus. Dies geschah, nachdem Kretz bereits im Gefängnis von Sambir (heute Ukraine) knapp der Deportation entkam – Umstände, die sie später als „Wunder“ beschrieb.
Während ihres Vortrags schilderte sie die unvorstellbaren Bedingungen – wie Hunger und das monatelange Leben auf engstem Raum ohne Licht –, denen sie in Verstecken, Ghettos und im Gefängnis von Sambir ausgesetzt war. Besonders eindringlich erzählte sie von einem Moment in eben jenem Gefängnis:
In eine überfüllte Zelle, in der sie mit anderen jüdischen Frauen und Kindern eingesperrt war, wurde ein Neugeborenes geworfen – nackt, blutverschmiert und ohne jede Hilfe. Kretz gab dem Baby ihren Mantel, um es vor der Kälte zu schützen. Jenes Baby, Georg Bander, überlebte die spätere Deportation aus der Gefängniszelle, eingewickelt in besagten Mantel und unentdeckt in der Ecke auf dem Boden liegend. Später widmete er Henriette Kretz ein Gedicht, das Bände spricht:
—
Es knarrte der Schlüssel in dem Schloss.
Durch die offene Tür warf jemand ein neugeborenes Baby,
nackt und mit Blut bedeckt.
Keiner kannte die Mutter – und so kam noch ein Jude auf die Welt.
Hania, Mädchen, du hast deine Jacke gegeben,
um das Baby einzuwickeln:
Gott hat dich gerettet, um Zeuge zu sein,
dass ich geboren bin und dass ein Wunder geschah.
Jüdische Frauen haben das Leben gegeben, so wie
meine Mutter, die ich nie kennenlernen werde.
Wunderbare Madonnen, die in Belzec schlafen.
Ich lebe, um ihnen ein Lied zu singen.
Und solange ich lebe, soll mein Gesang nicht aufhören.
Die Welt soll sich erinnern, dass ein Verbrechen geschah.
Das Schicksal hat mich verschont,
um am frühen Morgen da zu sein,
um weiterzusingen,
um nicht zu vergessen, solange das Gedächtnis reicht.
Georg Bander
Henriette Kretz schloss ihren Vortrag mit einem eindringlichen Appell: „Die Geschichte war umsonst, wenn wir nichts daraus lernen.“ Sie erinnerte daran, dass die perfide Ideologie und der resultierende Genozid der Nationalsozialisten, der über sechs Millionen Juden und Hunderttausenden Sinti und Roma das Leben kostete, nur durch Gleichgültigkeit, blinden Gehorsam und Hass möglich waren.
„Es gibt nur eine Rasse: die der Menschen“, sagte sie mit Nachdruck und ermutigte dazu, Verantwortung für Menschlichkeit und Demokratie zu übernehmen. Ihre Worte hallen nach – als Mahnung, als Auftrag und als Hoffnung auf eine Welt, in der solche Gräueltaten nie wieder geschehen.